Dass Bürgermeister Hans-Heinrich Barnick als gebürtiger Schenefelder im Westen geboren wurde, sei einfach nur Glück gewesen. Glück, das andere Menschen nicht hatten. „Sie mussten auf der anderen Seite des Vorhangs aufwachsen und leben. Bis die Mauer endlich fiel...“
Dieser Teil der deutschen Geschichte bewegt noch heute. Rund 180 Gäste waren ins Forum der Grund- und Gemeinschaftsschule zum Festakt anlässlich des 25. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung gekommen. Sie verfolgten aufmerksam die Worte von Barnick und seinem Gastredner Günter Kunert. Der Schriftsteller erzählte in einer bewegenden Festrede von seinem Leben auf der anderen Seite des Vorhangs.
„Es war für mich schwierig, etwas zu diesem Tag zu sagen“, begann der Publizist seine Rede. Sei damit doch plötzlich seine eigene Vergangenheit über ihn hereingestürzt. „Eine häufig wiederkehrende Formel besagt, man könne zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sein.“ Das habe vor rund 70 Jahren auf sehr viele Menschen zugetroffen, so der gebürtige Berliner. Besonders betroffen gewesen sei damals Berlin, denn dort konnte schon das falsche Haus, den weiteren Lebensweg festlegen. Kunert berichtete von sich und seiner Familie, die Kreuzberg gegen den Prenzlauer Berg tauschten, man ungehindert pendeln und Verwandte und Freunde jenseits der durch Schilder gekennzeichneten Grenze besuchen konnte. Bis hin zu dem Tag, als „nur noch die Gedanken frei waren“.
In seiner Rede erinnerte er auch an das „ständig Unerreichbare“. Das Fernsehen habe eine Wirklichkeit gezeigt, die der Zuschauer in der DDR nicht aus eigener Kenntnis beurteilen konnte. „Das war eine unerreichbare Welt, die Sehnsucht weckte.“ Unter anderem habe man von fremden Ländern geträumt, von denen Tanten und Onkel bei ihren Besuchen berichteten. „Vor der Mauer lief die Zeit weiter – hinter der Mauer stand die Zeit still“, sagte Kunert. Bis eine neue Generation heranwuchs, die ein anderes Leben als das ihrer braven Eltern forderten. Nachdem am 40. Jahrestag der DDR Gorbatschow den Verantwortlichen zugerufen hatte, das Leben werde den bestrafen, der die Zeit verkenne, gab es kein Halten mehr. „Unvergesslich die Euphorie, die Tränen, das Lachen, der Jubel und die friedliche Volksfeststimmung, die Herzlichkeit des Empfangs des verlorenen Sohnes, dessen Rückkehr man nicht mehr erwartet hatte oder der Tanz auf der Mauerkrone.“
Immer deutlicher wurde den Zuhörern, dass auch er stets voller Hoffnung auf eine andere, bessere und friedfertigere Gesellschaft war. „Aus der Parole ‚Wir sind das Volk‘ wurde ‚Wir sind ein Volk‘“. Doch der Rausch hielt nicht vor. Die, die sich einst in den Armen lagen, verwandelten sich in „Ossis und Wessis“ und beurteilten sich skeptisch. „Der Prozess des Zusammenwachsens braucht immer noch seine Zeit“, ist sich Kunert sicher und schlug den Bogen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte. „Wie über Nacht hat sich der Wind der Geschichte gedreht – plötzlich geht es um weitaus größere Probleme, als um innerdeutsche.“ Die eigene Geschichte, Erfahrungen mit Flüchtlingen, mit Vertriebenen sei eine andere, als die sich gerade vollziehende, sagte Kunert. „Wie wir damit fertig werden, scheint mir eine Aufgabe zu sein, die schier unlösbar ist und angesichts derer doch nichts anderes übrig bleibt, als sie zu bewältigen“.
Umrahmt wurde der Festakt von einer Ausstellung mit Stellwänden, die neben dem damaligen Volksaufstand und dem Mauerbau auch den Mauerfall zeigten. Den musikalischen Rahmen bildeten der Frauenchor „Musica“ und die Liedertafel „Concordia“. Dem Festakt schloss sich ein Beisammensein zum Gedankenaustausch an.
Schenefeld, 05. Oktober 2015 Quelle: sh:z Bericht: K. Mehlert Foto: J. Hansen